Wo liegen die Schätze, aus denen Kirche Zukunft gestalten kann?

Interview mit Landespfarrer Peter Mörbel

Landespfarrer Peter Mörbel. Foto: Andrea Zmrzlak

Mit einem Festakt im Bonner Haus der Evangelischen Kirche wurde Peter Mörbel am 28. November 2018 aus dem aktiven Dienst verabschiedet. Seit 2005 hatte er als Studienleiter den Bereich Kirche, Wirtschaft und Arbeitswelt an der Evangelischen Akademie im Rheinland verantwortet. Anlässlich seiner Verabschiedung aus dem aktiven Dienst hat die Öffentlichkeitsbeauftragte der Akademie, Hella Blum, ein Interview mit ihm geführt.

2005 sind Sie als Studienleiter für die Bereiche Kirche und Arbeitswelt an die Evangelische Akademie im Rheinland gekommen. Welche Akzente haben Sie bei Ihrer Tagungsarbeit gesetzt?

Akademietagungen sind lebendige Diskurse und keine Akklamationsveranstaltungen für unhinterfragbare Meinungen. Ich habe sowohl auf Vertiefungen als auch auf Kontraste gegenüber manchen vorherrschenden innerkirchlichen Positionen geachtet. In der Akademiearbeit muss ein breites Meinungsspektrum zu Wort kommen können. Wir haben die Freiheit, auch etwas gegen den Strich bürsten zu können. Das bietet Spielräume gerade auch bei umstrittenen kirchlichen Stellungnahmen. Auf diese Weise trägt unsere Arbeit gerade bei komplexen Themen zu einer sachlich notwendigen Differenzierung bei und macht Kirche gesellschaftlich sprachfähig. So sehr man sich hier und da im Ziel mit anderen einig ist: Die Rolle der Kirche im gesellschaftspolitischen Diskurs kann nicht darin bestehen, einfach politische Argumentationsmuster von Parteien, Verbänden oder Interessensgruppen zu übernehmen. Beispielsweise wäre eine allgemeine Kritik der Finanzmärkte allzu billig, ohne das Gespräch mit Verantwortlichen aus den Banken oder Investmentgesellschaften auch nur zu suchen. Bei Arbeitsweltthemen genügt es nicht, nur die Arbeitnehmerseite zu hören, man muss auch der Sicht der Arbeitgeberschaft fairen Raum in der Diskussion lassen und man muss sich über eine umsichtige Auswahl von Referentinnen und Referenten um ökonomische, personalpolitische, arbeitsrechtliche und arbeitsmarktpolitische  Sachkompetenz bemühen.

Beim Schwerpunkt „Gesellschaftlicher Wandel“ war mir wichtig, mit dem demographischen Umbruch konstruktiv umzugehen. Was heute in aller Munde ist, war zu Beginn meiner Tätigkeit wenig populär. Das hing damals unter anderem an einem Bild vom alten Menschen, das überwiegend von Defiziten wie Gebrechlichkeit, Pflegebedürftigkeit, Demenz und Todesnähe beherrscht war. Aber wir werden inzwischen 30 Jahre älter als unsere Großeltern und wir werden anders alt als diese: geistig fitter und körperlich gesünder. Senioren als gesellschaftliches Potenzial, die theologische Denkungsart „im Alter neu zu werden“, also Natalität (Geburtlichkeit) statt Thanalität (Todesverfallenheit) –  das alles hat die sehr lesenswerten EKD-Denkschrift  von 2010 entfaltet und wir haben das sehr gern vertieft und verstärkt. 

Gibt es Projekte oder Tagungen, die Ihnen besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben sind?

Zuletzt hat mich ein Projekttag über die heutige Bedeutung von Karl Marx mit 100 Oberstufenschülerinnen und -schülern des Evangelischen Bonhoeffer-Gymnasiums in Schweich im Frühjahr dieses Jahres tief beeindruckt. Eine große Tagung 2007 mit unserer Kirchenleitung und der DHL-Spitze zum Thema Compliance (streng gesetzeskonformes Verhalten aller Unternehmensangehörigen), eine sehr gut besuchte Abendveranstaltung 2017 in Düsseldorf zur Gefahr der kommerziellen Sterbehilfe mit evangelischen und katholischen Unternehmern und eine etwas atypische Tagung zum Thema „Humor auf der Kanzel“ mit einem katholischen Karnevalisten, der im richtigen Leben als Diakon arbeitet und mit dem Kirchenkabarett „Klüngelbeutel“, sind mir ebenfalls noch gut in Erinnerung.  Bei der letztgenannten Tagung rührt die Begeisterung sicher daher, dass Sozialethik  ansonsten ja eher eine der vollkommen humorfreien Zonen des Lebens ist und hier ein Kontrapunkt gesetzt wurde.

Seit 2016 arbeitet die Evangelische Akademie im Rheinland mit neuem Konzept – sie lädt jetzt an wechselnden Orten der rheinischen Kirche zu Veranstaltungen ein und ergänzt dieses Angebot durch ihre Interpräsenz. Wie haben Sie diesen Wandel erlebt?

Im Endergebnis durchweg positiv. Allerdings gab es lange Phasen der Verunsicherung, die vor allem für die  Kolleginnen und Kollegen belastend war. Ich selber war ja der einzige Beamte im Team, dem der Himmel nicht auf den Kopf fallen konnte. Als dann endlich klar war, wo und wie es weitergehen würde, fand ich es hoch spannend, auf meine „alten Tage“ noch einmal an einem solchen Experiment beteiligt zu sein. Erst im Nachhinein haben wir gemerkt, wieviel Energien das klassische Tagungshaus-Modell an einem festen Standort gebunden hatte. Jetzt können wir mit unseren Projektpartnern eine für uns günstigere Arbeitsteilung verabreden, haben weniger Organisation an den Hacken und arbeiten mehr an Inhalten. Das bekommt vor allem der Präsenz im Internet und in den Sozialen Medien, durch die wir sehr viel mehr Menschen – vor allem auch in jüngeren Altersgruppen – erreichen.

Wo werden aus Ihrer Sicht zukünftig die Schwerpunkte der Sozialethik liegen?

Zwischen der sachgerechten Seite des Wirtschaftens und der menschengerechten Seite muss eine vernünftige Balance immer neu ausgehandelt werden. Die christliche Sozialethik muss dafür handfeste Kriterien liefern, was in der digital geprägten Wirtschaft „menschengerecht“ ist und bleiben muss. Sie muss sich aber auch um die sachliche Seite kümmern, d.h. um ökonomische und technische Zusammenhänge und dafür Urteilskriterien entwickeln. Kirche und Theologie sind im Blick auf die IT-Welten gefühlt einige Lichtjahre hinter der Entwicklung zurück. Ich meine damit nicht die von mir hoch geschätzten Kolleginnen und Kollegen aus der Theologie, die sich im kirchlichen wie im universitären Kontext den neuen Herausforderungen stellen. Sie mühen sich redlich, aber die Ergebnisse ihres Nachdenkens verpuffen in einem Umfeld, das sich schwertut, Digitalisierung als ethische Herausforderung zu begreifen. Für viele ist es eben „nur“ Technik. Dieser Ansatz aber greift entschieden zu kurz, weil er suggeriert, Technik sei letztlich beherrschbar.

Evangelische Sozialethik umfasst als christliche Gesellschaftswissenschaft aber noch sehr viel mehr Felder. Sie  wird sich mit der Legitimationskrise unserer Demokratie auseinandersetzen müssen. Dabei wird sich zeigen, ob wir in der Lage sind, unsere Kirche als Ort zum Einüben von christlichem Glauben UND von Demokratie zu gestalten. Damit das möglich wird, müssen wir noch eine Menge historischen  Ballast abwerfen. Noch immer gibt es eine quasi staatskirchliche Behördenstruktur – und das, obwohl wir schon lange keine Kirche mehr sind, die nach hoheitlichen Mustern organisiert sein muss. Wenn ich auf die vergangenen 40 Jahre zurückblicke, bin ich skeptisch, ob es in den nächsten Jahrzehnten gelingt, altes Hoheitsdenken und subtile, aber hoch wirksame Vermachtungsstrukturen jenseits der Kirchenordnung aufzugeben. Mein Traum ist eine Kirche, die intern gut geregelt kriegt, was sie nach außen hin fordert: Gute Arbeitsverhältnisse, gerechte Verteilung von Ressourcen und eine Konzentration auf’s Wesentliche, d.h. auf das, was nur Kirche kann und sonst keine anderer Institution unserer Gesellschaft. Wir müssen nicht zu allem etwas sagen, aber in dem  was wir sagen, müssen auch Nichtchristen erkennen können, was das mit unserem Glauben zu tun hat.       

Gemeindepfarrer, persönlicher Referent des Ratsvorsitzenden, Studienleiter an der Akademie – in Ihrem beruflichen Leben haben Sie den Protestantismus und das kirchliche Leben aus unterschiedlichen Perspektiven kennen gelernt. Was macht „evangelisch“ heute aus? Wo liegen die Schätze, aus denen Kirche Zukunft gestalten kann?

Wir haben gerade das Gedenkjahr der Reformation hinter uns, in dem viele Versuche unternommen wurden, evangelisch zeitgemäß zu definieren. Ich maße mir gerade wegen meiner beruflichen Ausflüge in die Weite der EKD keine umfassende Bestimmung von „evangelisch“ an. Für mich ist „evangelisch“  unerschrockene Freiheit des Glaubens in frommer Vielfalt und zugleich der Mut zur klarer Verbindlichkeit im Engagement für das Gemeinwesen. Unsere Gesellschaft braucht Christinnen und Christen, die aus dem tiefen Brunnen biblischer Hoffnung schöpfen und genau darum nicht bei jedem politischen Klimawechsel panisch werden. Was für die Einen ein „Buch mit sieben Siegeln“ ist, ist die größte Schatztruhe unserer Kirche, in der jede Generation wieder neu fündig wird.

Nach 40 Berufsjahren beginnt jetzt ein neuer Lebensabschnitt für Sie. Haben Sie schon Pläne für diese „entpflichtete“ Zeit?

Meine Frau hat in über 40 Jahren zu meinen Gunsten so manches Mal auf die Verwirklichung eigener Interessen verzichtet. Die haben jetzt Vorfahrt. Ich muss aus gesundheitlichen Gründen etwas langsamer machen  und werde bedacht auswählen, was ich mir vornehme. Wie so mancher andere Ruheständler werde ich mich zunächst an der Bonner Uni, und später in unserer künftigen Heimat in Bayern auf Feldern umsehen, die mich schon lange reizen, für die aber bisher immer die Zeit fehlte, z.B. in der Politikwissenschaft, der Philosophie oder in der Kunst- und der Musikgeschichte.

Da höre ich eine Menge Neugier und Wissensdurst heraus, zwei Eigenschaften, die wir an der Akademie auch immer wieder erfahren durften. Wir alle wünschen Ihnen Gottes Segen für all Ihre Pläne. Herzlichen Dank für dieses Interview!

  • 29.11.2018
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