Die Zeit vergeht. Unaufhörlich tickt die Uhr. Für einen Augenblick möchte ich mir mein Leben ohne Zeitmessung vorstellen. Geht das überhaupt? Es ist alles so durchgetaktet: vom Schulgong über die Stechuhr am Arbeitsplatz bis zum vibrierenden Handywecker.
Keine Frage: Zeiterfassung ist hilfreich und gibt dem Leben Struktur. Kirchen und Tempel dienten früh als Orte öffentlicher Zeitansage. Die Sonnenuhr am Portal, ab dem Mittelalter die große Uhr oben am Turm. Die Benediktiner entwickelten im 6. Jahrhundert das Stundengebet im Kloster, das zeigt, wie sich Spiritualität und das Bedürfnis nach exakter Zeitmessung verbinden.
Doch ich habe das Gefühl, meine Zeit fliegt davon. Je älter ich werde, umso mehr. Dabei ist es paradox: Der Mensch lebt im Schnitt immer länger, die Lebenserwartung hat sich in den letzten 150 Jahren mehr als verdoppelt, die Arbeitszeit zugleich halbiert. Dank technischem Fortschritt läuft, fährt, fliegt heute alles schneller. Wir sparen viel, viel Zeit ein – nur: Was bringt´s?
„Unstet und flüchtig wirst du sein auf Erden“, erzählt die Bibel als Folge der Geschichte vom Brudermord von Kain an Abel (1. Mose 4,12). Eine sehr frühe und typisch biblisch bemerkenswert realistische Sicht auf Mensch und Zeit.
Jetzt ist die Passions- und Fastenzeit. Eine Zeit der Entschleunigung. Ich schaue hoch zu unserer Kirchturmuhr und denke an ein anderes Bibelwort „Meine Zeit steht in deinen Händen“ (Psalm 31,16). Ist das nicht die eigentliche Botschaft dort oben? Nicht die Ermahnung zu Pünktlichkeit, sondern zu mehr Gottvertrauen. „Meine Zeit in Gottes Händen.“ Das ist der Takt für ein ganz anderes Zeitgefühl. Das gut tut.
Joachim Gerhardt
Geistlicher Impuls
Joachim Gerhardt, Pfarrer an der Bonner Lutherkirche und Pressesprecher des Kirchenkreises Bonn, schreibt alle drei Wochen das „Wort zum Sonntag“ in der Gesamtausgabe der Kölnischen/Bonner Rundschau, auf Seite 4 in der der großen Tageszeitung in der Köln-/Bonner Region. Hier erfahren Sie mehr: www.rundschau-online.de
(Text erscheint am 11.03.2023)