Der Bonner Superintendent Dietmar Pistorius appelliert: „Soziale Arbeit nicht im Stich lassen!“ – Appell auch der Wohlverbände in NRW an die Landesregierung

Die evangelische Kreissynode Bonn hat sich auf seiner jüngsten Tagung mit sehr nachdrücklichen wie nachdenklichen Worten an die politisch Handelnden zur finanzielle Lage der Träger freier Wohlfahrtspflege gewandt. Der Bonner Superintendent hat die Einschätzung der evangelischen Kirche in einem Brief an die politischen Vertreter/innen- und Mandatsträger/innen wie Leitungskräfte der Stadt- und Kreisverwaltung zusammengefasst und sie in diesen Tagen persönlich verschickt. Auch die Verbände der freien Wohlfahrtsverbände haben jüngst noch einmal ihre große Sorge öffentlich gemacht.

Der Bonner Superintendent Dietmar Pistorius (Foto: KK Bonn/Barbara Frommann)

Superintendent Pistorius schreibt: „Die Synode konstatiert im ersten Punkt, was wir alle wissen, und was uns die die Wohlfahrtsverbände – auch unser Diakonisches Werk vor Ort – berichten: Die Soziale Lage erfordert mehr Beratung, Betreuung und Hilfe für immer mehr Menschen – auch aus Gruppen unserer Bevölkerung, die bislang solche Bedarfe nicht hatten.

Gerade angesichts dieser Situation multipler Krisen erkennt die Synode dankbar an, was auf allen Ebenen unseres Landes – in Bund, Land und in Bonn – getan wird, um Menschen in dieser Situation zu unterstützen. Mir liegt persönlich daran, diesen Punkt noch einmal zu unterstreichen. Wort und Geist der Synode sind weit davon entfernt, den politischen Akteuren sozialpolitische Untätigkeit vorzuwerfen!

Dennoch müssen wir darauf hinweisen, dass sich durch die inflationsbedingten Steigerungen der Sachkosten und die von uns in der Sache nicht kritisierten hohen Tarifabschlüsse eine Belastung der freien Träger sozialer Arbeit ergibt, die durch die bisherigen Haushaltsplanungen nicht ausgeglichen werden. Die Landesarbeitsgemeinschaft der Wohlfahrtsverbände hat in ihrem offenen Brief an den Ministerpräsidenten vom 2. Juni davon gesprochen, dass die soziale Infrastruktur in Nordrhein-Westfalen „vor dem Kollaps“ steht. Tatsächlich fürchte ich auch in meinem Verantwortungsbereich darum, dass die genannten Faktoren in der Kombination mit sinkenden Einnahmen aus den Kirchensteuern uns zu Einschnitten zwingen werden. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere kleinere Träger, noch sehr viel stärker an ihre Grenzen kommen werden.

Natürlich fordern wir im dem Wort daher, dass die Kostenträger auf allen Ebenen die Kostensteigerungen vollständig finanzieren. Wir sehen aber auch, dass dazu die Mittel vorhanden sein müssen. Daher spricht die Synode offen an, dass über Einnahmeerhöhungen der öffentlichen Hand, im konkreten wird es um Steuern gehen, nachgedacht werden muss. Denn als Synode der Evangelischen Kirche sehen wir die Fülle der Aufgaben, die alle zugleich anzugehen sind, und die nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen: Klimaschutz, Investition in öffentliche Infrastruktur, Bildung, Soziales… Das mag ein Tabubruch sein, den wir aber im Interesse von Gemeinwohl und Gerechtigkeit nicht scheuen.

Schließlich möchte ich noch einmal unterstreichen, dass wir als Evangelische Kirche in Bonn und Region ebenso wie unser Diakonisches Werk uns selber gerne an konstruktiven und lösungsorientierten Gesprächen beteiligen, gerne auch im Verbund mit anderen Trägern sozialer Arbeit. Denn es geht uns nicht um „kirchliche Pfründe“, sondern um Problemanzeigen und gemeinsame Lösungssuche.“

Zum Schluss dankt Superintendent Pistorius noch einmal ausdrücklich „persönlich für alles Engagement im Interesse der Menschen und des sozialen Zusammenhaltes unserer Gesellschaft“.

Hier das Wort der Synode im Wortlaut: Anlage 6.1_Wort der Synode zur wirtschaftlichen Lage freier Träger

Die Diakonie der Evangelischen Kirche im Rheinland, in Westfalen und Lippe

Auch die Freie Wohlfahrtspflege in NRW, zu der auch das Diakonisches Werk Rheinland-Westfalen-Lippe gehört, hat sich jüngst noch einmal sehr eindrinlich zu dem Thema öffentlich erklärt. Die Botschaft: „Das Land darf die soziale Arbeit nicht im Stich lassen!“ Hier der Appell vom 3. Juli 2023:

„Landesregierung ignoriert Hilferuf der Freien Wohlfahrtspflege NRW“

Vor über einem Monat hatten die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege NRW einen Hilferuf an Ministerpräsident Hendrik Wüst abgesetzt. Eine Reaktion der Landesregierung auf den Offenen Brief zur Lage der Einrichtungen und Dienste vom 1. Juni 2023? Fehlanzeige! „Wir sind diesen außergewöhnlichen Schritt gegangen, weil wir in einer dramatischen Situation sind. Wenn die Landesregierung sich nicht schnellstens zu Ihrer Finanzierungsverantwortlichkeit bekennt, droht der Kollaps des Betreuungssystems in NRW“, so Christian Woltering, Vorsitzender der Freien Wohlfahrtspflege NRW. Die steigende Inflation hat dazu geführt, dass Sachkosten und Personalkosten für die Einrichtungen und Dienste in existenzbedrohender Weise angestiegen sind. Die Finanzierung holt diese Kostensteigerung nicht oder nur sehr viel später nach. Es braucht daher schnellstens ein Rettungspaket, um das System vor dem Kostenkollaps zu retten.

Kitas, Offener Ganztag, Angebote für Menschen mit Behinderung, Beratungsstellen oder Pflegeheime: Das Problem zieht sich durch den gesamten Sozialbereich. „Es scheint innerhalb der Landesregierung einen Streit zwischen Jugendministerium und Finanzministerium zu geben. Wenn aber der Finanzminister mit seiner Blockadehaltung den Kollaps des Betreuungssystems zu verursachen droht, dann muss der Ministerpräsident das zur Chefsache machen“, so Woltering. Besonders da, wo das Land eine direkte Finanzierungsverantwortung hat, zum Beispiel bei den Kitas oder dem Offenen Ganztag, da kann und darf es nicht durch Untätigkeit auffallen, so die Mahnung der Verbände. Gleichermaßen dürfen sich auch die Kommunen nicht ihrer Verantwortung entledigen.

Wohlfahrtsverbände in NRW: „Betreuungskollaps droht – Land muss seiner Verantwortung fürs Soziale gerecht werden“

Es gibt trotz monatelanger Diskussion keinerlei Fortschritte, trotz der dramatischen Lage, die sich abzeichnet. Wir wurden beruhigt, vertröstet, zum Schluss ignoriert. Es gibt nicht einmal Empfangsbestätigungen für unsere letzten Schreiben.“ so Stephan Jentgens, Vorsitzender des Arbeitsausschusses Tageseinrichtungen für Kinder der Freien Wohlfahrtspflege NRW. „Es fehlen alleine im Kita-Bereich, und damit für die Kinder und Familien, zeitnah 590 Millionen Euro im System. Mit diesen Kosten werden die Träger für die nächsten 18 Monate alleine gelassen. Aber nicht alle werden in der Lage sein, das bis zur nächsten vorgesehenen Anhebung der Finanzierung durchzuhalten,“ so Jentgens. „Wir rechnen damit, dass, ohne Zwischenfinanzierung durch das Land und die Kommunen, in den kommenden 18 Monaten 50 Prozent der Träger in finanzielle Schwierigkeiten geraten, bis hin zur Insolvenz, auch weil Rücklagen nicht vorhanden, zu gering oder zweckgebunden sind.“ Das würde bedeuten, dass eine Vielzahl Kitas in NRW, ihre Anzahl der Gruppen reduzieren oder ihren Betrieb und damit die Betreuung der Kinder einstellen müssten.

Wir erneuern hiermit unseren Hilferuf an Ministerpräsident Wüst: Setzen Sie sich für die soziale Landschaft in NRW ein! Verhindern Sie den Betreuungskollaps und knüpfen Sie ein Rettungspaket für den Sozialbereich,“ so Christian Woltering. „Wenn es nicht gelingt, kurzfristig ein positives Signal an die Träger zu senden, werden wir nach den Sommerferien weitere Schritte ergreifen, um die Landesregierung von ihrer Verantwortung zu überzeugen.“ Dazu laufen bereits Gespräche mit Gewerkschaften und Elternvertretungen, um zu prüfen, ob man in einem gemeinsamen Aktionsbündnis nach den Sommerferien zu Protesten gegen die Landesregierung aufruft.“

Hintergrundinfo: Die Freie Wohlfahrtspflege in NRW

In der Arbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege NRW haben sich die Arbeiterwohlfahrt, Caritas, der Paritätische Wohlfahrtsverband, das Deutsche Rote Kreuz, die Diakonischen Werke und die Jüdischen Gemeinden mit ihren 16 Spitzenverbänden zusammengeschlossen. Die Freie Wohlfahrtspflege NRW weist auf soziale Missstände hin, initiiert neue soziale Dienste und wirkt an der Sozialgesetzgebung mit. Mit ihren Einrichtungen und Diensten bietet sie eine flächendeckende Infrastruktur der Unterstützung für alle, vor allem aber für benachteiligte und hilfebedürftige Menschen an. Ziel der Arbeit der Freien Wohlfahrtspflege NRW ist die Weiterentwicklung der sozialen Arbeit in Nordrhein-Westfalen und die Sicherung bestehender Angebote.

Weitere Infos: www.freiewohlfahrtspflege-nrw.de /  www.diakonie-rwl.de

(19.06.2023 /zuletzt aktualisiert 04.07.2023 / ger)